Text: André Meier
Als Dorfbewohner wird man ja schnell als Misanthrop beschimpft. Zumindest dann, wenn man in geselliger Großstadtkneipenrunde nicht in Tränen ausbricht, kommt das Thema Abwanderung auf den Tisch. Und ja, nach gut einem halben Jahrhundert unter Menschen steht für mich fest: Ein halbes Dutzend geist- und friedvoller Exemplare dieser Spezies in der Nachbarschaft genügen vollends, um sozial und rhetorisch nicht zu verkümmern. Das volle, vor bäuerlichem Leben strotzende Dorf ist ohnehin eine Schimäre aus längst verflossener Zeit.
Und überhaupt kann von Abwanderung auch gar keine Rede sein, wenn man den Betrachtungsrahmen etwas weiter zieht. Als ich neulich bei einem verspäteten Frühjahrsputz über unsere Fensterrahmen wischte, hatte ich auf einen Streich ein halbes Hundert Chinesen in meinem Lappen. Normalerweise ist ja die Angst vor der asiatischen Dominanz ein Thema für die Wirtschaftsseite, aber seit der erste Harmonia axyridis europäischen Boden betreten hat, weiß auch der Naturfreund, was die Stunde geschlagen hat. Um hier nicht dumpfer Xenophobie bezichtigt zu werden: Was da im Reinigungstuch klebte, waren keine Zwei- sondern Sechsbeiner, waren Massen von Marienkäfern aus chinesischer Produktion. Anders als der hier seit Jahrhunderten friedlich vor sich hin krabbelnde Siebenpunktmarienkäfer ist sein asiatischer Kollege äußerst wandlungsfähig. Die Grundfarbe seiner Deckflügel variiert ebenso stark wie die Anzahl der darauf platzierten Punkte. Rein äußerlich scheint er also eher auf westlich-libertären Nonkonformismus zu setzen als auf kulturrevolutionäre Uniformität. Nur, ein kleiner harmloser Hippie ist dieser Käfer mitnichten. Im Gegenteil. Der Harmonia axyridis ist eine rücksichtslose Kampfmaschine. Frostresistent, immun gegen Pilze und Bakterien, ist er drauf und dran, seinen alteuropäischen Artgenossen aus unseren Gärten zu verdrängen. Erst schnappt er ihm die Läuse weg, dann macht er sich an seine Weibchen ran. Schlichte Gemüter könnten dies als hohe Integrations- und interkulturelle Dialogbereitschaft werten. Aber Vorsicht! Einmal dem mit Punkte- und Farbvielfalt protzenden Exoten verfallen, setzt die Siebenpunktmarienkäferfrau nur unfruchtbare Bastarde in die Welt, fortpflanzungsunfähige Muli-Käfer sozusagen.
Ein Wunder, dass sich Thilo Sarrazin des heiklen Themas noch nicht angenommen hat. Dem chinesischen Marienkäfer muss man allerdings zugutehalten, dass er nicht freiwillig seine alte Heimat verlassen hat. Ende der 1990er Jahre holten ihn Agrarwissenschaftler ins Abendland, um mit seiner Hilfe Pflanzenschädlinge auf sanfte Art zu bekämpfen. Keine gute Idee, wie man inzwischen weiß. Die Körpersekrete des Harmonia axyridis sind besonders ätzend. Was einerseits die Zahl seiner natürlichen Feinde minimiert, andererseits aber auch immer mehr deutsche Winzer in den Wahnsinn treibt. Denn an kühlen Spätsommertagen macht es sich der chinesische Marienkäfer gern schwarmweise in ihren sonnengewärmten Reben bequem. Was er lieber unterlassen sollte, denn so endet er mit den Trauben in der Maische und versaut den Wein. Und das wiederum ist ein klarer Verstoß gegen Punkt sechs der von Mao Tsetung verfassten acht Verhaltensregeln der Chinesischen Volksbefreiungsarmee. Der da heißt: Beschädige nicht die Ackerbaukulturen.
Erschienen in DAS MAGAZIN 06/2103.
Von Anja Baum und André Meier gibt es zwei Bücher über ihr Landleben: »Hollerbusch statt Hindukusch« und »Die kleiner Ausstegerfibel«. Sie können die Bücher bei uns direkt und versandkostenfrei bestellen.