Ist sie das, die alternde Gesellschaft?
Text: Kirsten Fuchs
In irgendeinem Jahr weit, weit weg brachte die 25-jährige Susanne einen gesunden Sohn zur Welt. Das einzige Kind, das in diesem Jahr in Deutschland geboren wurde. Seit langer Zeit das erste Kind, das geboren wurde. Damit die Gesellschaft nicht aus den Fugen geriet, wurde der Fall nicht an die große Glocke gehängt. Eine alte, alzheimerkranke Hebamme versuchte sich zu erinnern, wie man abnabelt. Alle Krankenhäuser, bei denen Susanne in der Schwangerschaft nachgefragt hatte, sagten, sie wären auf so einen Fall nicht vorbereitet. Der Kreißsaal hieße nur noch Kreißsaal, weil sich dort der Kreis des Lebens schloss. Dort wäre das Sterbezimmer.
»Wieso sind Sie denn nicht sterilisiert?«, hatte ein Arzt Susanne vorwurfsvoll gefragt. »Das ist doch verantwortungslos den eigenen Eltern gegenüber! Wo haben Sie denn die Zeit her, ein Kind aufzuziehen. Brauchen Ihre Eltern Sie nicht?« Susanne hatte dem Arzt erzählt, dass ihre Eltern noch in der Lage wären, für sich selbst zu sorgen. Da war Susanne mitleidig angesehen worden, weil sie das Glück der Elternbetreuung noch nicht erfahren hatte: die letzten Schritte der Eltern, das Windeln, das Toben in den Elternspielgruppen, das Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte … Der Arzt hatte schon von Menschen gehört, die sich als Elternersatz einen Hund angeschafft hatten, die Eltern aus anderen Ländern in Pflege genommen hatten und warum nicht sogar ein Kind betreuen, so verrückt es auch klingt.
Susanne wusste nicht, wann das alles angefangen hatte, dass der Staat die Pflege älterer Menschen nicht mehr finanzieren konnte, weshalb eine große Werbekampagne der SPD geschaltet wurde, die glückliche Familien mit spielenden Eltern zeigte: das liebevolle Füttern von Mama und das Im-Park-Herumschieben des Rollstuhls von Papa. Irgendwann wurde die Anstrengung der Altenpflege zur Freude umgedeutet. Familie wurde wieder großgeschrieben, es ging dabei eben nur nicht um Kinder, sondern um die Eltern, die bunte Bilder malten und bunte Latzhosen trugen, die man abkitzeln konnte und die im Winter rodeln wollten.
Da für Kinder keine Zeit war, verlegte sich der Mutter- und Vatertrieb auf die eigene Mutter und den eigenen Vater UND die Mutter vom Partner und den Vater vom Partner. Manch glückliches Paar hatte vier verfallende Racker zu Hause herumwuseln. Damals, als man noch Kinder bekam, bekam man immer später Kinder, weshalb die Eltern schon pflegebedürftig waren, wenn ihre Kinder die Schule abschlossen. Viele junge Frauen konnten gar keinen Beruf ergreifen, weil sie ihre Eltern pflegen mussten. Es wurde wieder normal, dass die Frauen zu Hause blieben und die Männer das Geld verdienten. Dadurch erledigte sich auch das Problem der Arbeitslosigkeit wie nebenbei. Die SPD gewann die Wahl. Kanzler wurde ein einbeiniger, homosexueller, schwarzer Albino mit Hasenscharte. Nachdem die CDU das erste Mal mit einer Frau die Wahlen gewonnen hatte, setzten alle Parteien auf Exoten als Kanzlerkandidaten. Es war eine gut funktionierende Gesellschaft, bis auf den Fakt, dass sie sich nicht fortpflanzte.
Als Susanne sich einige Wochen nach der Geburt das erste Mal mit dem Kinderwagen auf die Straße traute, wurde sie scheel angesehen. Der Kinderwagen sah aber auch seltsam aus, es war eine Obstkiste, die Susanne auf einen Rollstuhl gebunden hatte. Das Baby strampelte munter in der Obstkiste und fasste mit seinen kleinen Händen nach dem Himmel. Auf den Bänken im Park saßen die Frauen der Umgebung und fütterten ihre Eltern oder die Eltern ihres Mannes. »Papa, kommst du her! Komm vom Müll weg!« Die Frauen unterhielten sich darüber, welche Fortschritte der Verfall ihrer Eltern so machte: »Und brauchen deine schon Windeln? Der Große noch nicht, aber die Kleine schon. Ach, es geht doch alles so schnell, sie werden so schnell gebrechlich. Aber ist das nicht die schönste Zeit, wenn sie aufhören zu laufen? Erst können sie noch stehen, dann robben und dann nur noch liegen. Und dann drehen sie sich so niedlich vom Rücken auf den Bauch, um sich nicht wundzuliegen. Da freue ich mich am meisten drauf.«
Susanne setzte sich auf eine Bank zu einer Frau mit ihrer Mutter. Die Mutter lutschte einen großen bunten Lutscher aus Kreislaufmitteln. »Tochter«, fragte die Mutter ihre Tochter und zeigte auf Susanne, »hat die Frau ganz kleine Eltern, dass die in eine Kiste passen?«
»Du sollst nicht immer so viel fragen!« Die Mutter schmollte. Sie schob ihr Gebiss im Mund hin und her. »Hör auf, mit dem Gebiss zu klappern!«
»Menno!«, bockte die Mutter: »Ich hab doch aber eine Frage. Hat die Frau ein Kind?«
Die Frau wurde rot und schaute Susanne entschuldigend an. »Na ja, Sie wissen ja, wie Eltern sind.« Susanne nickte verständnisvoll. Ihre Eltern lasen Bücher, pflegten den Garten und fuhren viel in der Welt umher. Eigentlich wusste Susanne nicht, wie Eltern sind …
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So beginnt die Geschichte »Papa, komm vom Müll weg!«.
Von Kirsten Fuchs sind zwei Kurzgeschichten-Bände erschienen: »Eine Frau spürt so was nicht«, 160 Seiten und »Kaum macht man mal was falsch, ist es auch wieder nicht richtig«, 180 Seiten, mit Hörbuch. Versandkostenfrei im Online-Shop bestellen.