Auf dem Land sind Eltern entspannter und haben mehr Zeit? Ein Mythos
Text: Anja Baum
Neulich nahm mich unsere Kindergärtnerin beiseite. Das passiert nicht oft. Auf dem Land konsultiert das Kita-Personal Eltern in der Regel nur, wenn der Nachwuchs im vierten Lebensjahr noch immer nicht trocken ist oder im Revierkampf so fest zubeißt, dass der Rettungswagen gerufen werden muss. Beides konnte ich ausschließen. Erstens haben wir ein Mädchen, und zweitens zieht dieses, um die Konkurrenz auszuschalten, lieber an den Haaren. Insofern war ich überrascht, als mich Tante Susi, ja, wir sagen noch Tante auf dem Land, mit strenger Miene zur Wand mit den Kinderzeichnungen bugsierte. Die liegt direkt vor dem Toilettentrakt, und ja, ich muss zugeben, ich hatte die Kita-Galerie in den letzten sieben Monaten nicht ein einziges Mal besucht.
Wir sind nun auch schon bei Hoferbin Nummer 3 angelangt. Da sinkt das elterliche Verzückungspotenzial bei vierbeinigen Kugelmenschen deutlich, zumal meine Hoffnungen, als künftige Künstlermutter alle finanziellen Sorgen los zu sein, schon zweimal enttäuscht wurden. Seit der Vater mir die Kinderzeichnungen von Paul Klee und Picasso auf den Bildschirm gelegt hat, weiß ich, wie hoch die Latte hängt. Selbst die putzigen Eichel- und Kastanienpferdchen aus der leergefutterten Brotbüchse wandern eher in den Komposteimer als in die Regalwand.
Aber Tante Susi wollte vor der Klotür gar nicht den Talentscout spielen und das bislang unerkannte Genie der Spätgeborenen preisen. Sie wollte nur ihrer Fürsorgepflicht nachkommen. Das Kind hatte nämlich einen dicken orangenen Kürbis mit Kulleraugen gemalt. Eigentlich kein Problem, hätte das Werk nicht in der Abteilung »Berufswunsch« zwischen Prinzessinnen und Treckerfahren gehangen. Mit vorwurfsvollem Ton stellte mich die Erzieherin zur Rede: Das Kind hätte erklärt, wenn sie ein Kürbis würde, hätte die Mama mehr Zeit für sie.
Ich fühlte mich kalt erwischt. Hatte ich doch tatsächlich in den letzten Monaten fast täglich bis zum Anbruch der Dunkelheit mein Grünzeug wahlweise vor Schnecken oder vorm Verdursten bewahrt. Möglicherweise ist bei dieser intensiven Betreuungsarbeit das Kind etwas kurz gekommen. Jetzt verstand ich auch seine Gemüse-Aversionen. Seit geraumer Weile blieb alles unangetastet auf dem Teller, was irgendwie nach Eigenproduktion aussah. Selbst Äpfel gehen nur, wenn ein Aufkleber verrät, dass sie garantiert nicht aus mütterlichem Anbau sind.
»Vielleicht«, versucht es Tante Susi wohlmeinend mit Erziehungstipps, »beziehen Sie das Kind in Ihr Hobby etwas mehr ein.« Die hat gut reden, dachte ich, ein Elefant im Porzellanladen ist nichts gegen Kinderfüße im Kürbisbeet. Wo die hintreten, wächst nichts mehr. Aber so etwas laut zu sagen hätte vermutlich die Jugendhilfe vorstellig werden lassen. Und solange wir noch nicht alle Äpfel von den Bäumen und gemostet haben, habe ich für Derartiges wirklich keine Zeit. Also erwiderte ich nichts.
Als wir zur Tür hinaustraten, konnte ich nicht anders, als mit dem Finger auf die Fliederbüsche zu zeigen, die das Grundstück begrenzten. »Im nächsten Frühling müssen Sie aber die verblühten Dolden abschneiden«, wies ich Tante Susi zurecht, »sonst wird das hier nie was mit der blickdichten Hecke! Die Kinder können Ihnen ja helfen.« ■